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Die chinesische Schrift umfasst ca. 85.000 Zeichen. Umso verwunderlicher, wie viele Zeichen sich regelmäßig unter dem Laser wiederfinden. Im tattoolos-Ranking der meist entfernten Tätowierungen landen sie nahezu immer in den TOP 10 – offenbar sind chinesische Zeichen als Tattoo alles andere als unverfänglich. Wir haben Jürgen Schätzel aus Glienicke bei Berlin nach seiner Meinung gefragt.
Herr Schätzel, Sie beschäftigen sich seit zehn Jahren mit chinesischer Kalligraphie (der Kunst, chinesische Schriftzeichen zu malen bzw. schön zu schreiben). Wie kam es dazu?
Ich fühlte mich nach mehr als 40 Berufsjahren zu jung fürs Rentnerdasein. Dass ich kein versicherungspflichtiges Entgeltbeschäftigungsverhältnis mehr bekam, begriff ich als Chance. Schon lange vorher beschäftigte ich mich, gemeinsam mit meiner Frau Kai van Koolwijk, mit der fernöstlichen Lehre des Feng Shui.
Seit 2006 lerne ich Chinesisch in Sprache und Schrift. Der Lehrstoff ist sehr umfangreich und wird mir nie ausgehen.
Bei wem sind Sie in die Lehre gegangen?
Das meiste habe ich der Kalligraphin Frau Su Chen Chung–Kuai zu verdanken. Seit ihrer Kindheit schreibt sie nichts anderes und hat viele Preise bekommen. Ihr Niveau werde ich nie erreichen. Manchmal denke ich, in ihren Adern fließt chinesische Tinte. Ihr Wissen gibt die Taiwanesin unter anderem bei der Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft in Berlin-Schöneberg, am Konfuzius-Institut in Berlin-Dahlem und in der buddhistischen Gemeinschaft Berlin weiter. Sie lehrt ihre Schüler, den Takt des Herzens zu Papier zu bringen.
Von Frau Li Yuhong lernte ich neben der chinesischen Sprache vieles über die Kultur des Landes. Mein Chinesisch-Lehrer Dr. Erich Gütinger ist mein einziger Nicht-Muttersprachler und übrigens der Einzige, der in Berlin und Brandenburg chinesische Kurz- und Langschrift unterrichtet. Es gibt noch zahlreiche weitere Weggefährten, von denen ich in Workshops und Seminaren lerne. Besonders fasziniert hat mich der Japaner Kazuaki Tanahashi. Dem in den USA lebenden Zen-Kalligraphie-Künstler begegnete ich 2014 in Berlin.
Was halten Sie persönlich von Tätowierungen?
Ehrlich gesagt: nicht viel. Ich finde, der Preis einer Tätowierung steht im krassen Gegensatz zu ihrer Entfernung, ganz abgesehen vom Schmerz und den psychischen Belastungen, wenn etwas auf der Haut nicht so aussieht, wie man es sich vorgestellt hat. Ich würde auch nicht alles auf die Haut tätowieren. Allerdings fallen mir auch besonders schöne Tätowierungen auf. So sah ich bei einer Frau vor einiger Zeit ein wirklich gelungenes Pferd, natürlich dargestellt in chinesischer Kalligraphie.
Nehmen wir einmal ein Beispiel aus dem tattoolos-Alltag. Was sagen Sie dazu?
Das ist so lieblos tätowiert worden, das grenzt meines Erachtens an Körperverletzung. Über den Schrifttyp kann man nur laut 笑 = xiào lachen. Oben steht Liebe 愛 ài. Gesprochen wird das mit dem Diakritika-Zeichen des vierten Tones, das heißt, die Tonlage geht von oben nach unten. Unten steht Lachen 笑 xiào. Die obige Zeichenkombination bedeutet „lustig/spaßig“ – wer will damit ein Leben lang herum laufen…? (Quelle: W. Fuchsenberger Chinesisch-Deutsches Universalwörterbuch 2008).
Überträgt man sinngemäß in das Lateinisch-Romanische, nutzt man die zurzeit offizielle Lautsprache „Pinyin“ mit den vier Betonungen. Einfach erklärt bedeutet das, dass alle Vokale A, E, I, O, U viermal genutzt werden können. Die diakritischen Zeichen zur richtigen Betonung stehen in der Pinyin-Umschrift jeweils als Aussprechhilfe über dem Vokal und zeigen die richtigen Betonungen an. Das soll für einen ersten Einstieg ins Chinesisch genügen.
Hier haben wir noch ein Beispiel. Die Kundin war 14 Jahre überzeugt, das Zeichen hieße Tiger. Doch es soll sich ein Schreibfehler eingeschlichen haben.
Das hab ich gleich, ich zeige es Ihnen in meinem Taschenwörterbuch. Wie gesagt, es gibt über 85.000 chinesische Schriftzeichen. Ein Trost für alle: ab 1.000 Zeichen kann man Zeitung lesen.
Herr Schätzel, wenn jemand aber unbedingt chinesische Zeichen auf der Haut tragen möchte – was raten Sie?
Für eine gut aussehende chinesische Tätowierung empfehle ich den Schriftentyp Kăi shū, eine lesbare Vorbildschrift. Oder die fast unleserliche Künstlerschrift căo shū, eine kursive Schrift. Der Tätowiermeister muss aber geübt sein. Kombinationen zweier Zeichen ergeben im Kontext oft einen anderen Sinn und somit auch gleich eine andere Bedeutung. Also Vorsicht, Vorsicht! Ich würde auch nicht jedes Zeichen tätowieren.
Bedenkenlos sind wie hier zum Beispiel die Binome (mehrsilbigen) Zeichen für „Gesundheit“ – jiàn kāng. Für ein Tattoo eventuell zu langweilig, als Kalligraphie hängt das in einer Praxis.
Halten Sie es für sinnvoll, sich vor einer Tätowierung von chinesischen Zeichen künstlerisch beraten zu lassen?
(lacht) Ja, natürlich, bevor man dann jahrelang mit einem Desaster auf der Haut leben muss, kann das prinzipiell nicht schaden. Sich kundig zu machen, wäre sicher für Tätowierer noch wichtiger. Ich bin offen für solche Anfragen.
Die Kalligraphie hat ja wie Feng Shui einen tieferen Sinn. Mitunter genügen wenige Entscheidungen oder Änderungen zum Beispiel bei der Wohnungseinrichtung, damit die Energie wieder fließt. Meine Frau konnte so schon mehrfach verzweifelten Singles helfen, einen Partner zu finden.
Die fernöstlichen Lehren bergen viele Schätze für Europäer. Was begeistert Sie momentan? Ich sage nur BER-Eröffnung. Welche Prognose haben Sie?
Ich tauche immer wieder in die asiatische Welt ein und entdecke ständig Neuland. So schnell kommt bei mir keine Langeweile auf. Wie Sie wissen, spielen Zahlen in der chinesischen Kultur eine große Rolle. Auch die Mondphasen sind bedeutsam. So soll man bei Mondwechsel möglichst keine Geschäfte machen.
Was die Eröffnung der Dauerbaustelle Flughafen BER betrifft, prognostiziere ich das Frühjahr 2018. Meine Berechnungen fassen zwei Termine ins Auge: den 17. März 2018, oder aber besser noch den 16. April 2018 Mitteleuropäische Zeit. Warum? Am 17. März 2018 könnte man erst um ca. 22 Uhr beginnen zu feiern, das ist unwahrscheinlich, weil schon sehr spät. Besser wäre da der 16. April 2018, weil die Feierlichkeiten schon am Vormittag beginnen könnten (Quelle: M. Kubny chinesischer Mondkalender). Wir können ja wetten!
Wir kommen darauf zurück. Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Sie!
Interview: Dagmar Möbius
Fotos: tattoolos, Dagmar Möbius, Jürgen Schätzel
Chinesische Zeichen als Tattoo: Beliebt und missverständlich
Chinesische Schriftzeichen als Tattoos zählen nach wie vor zu den beliebtesten Motiven überhaupt. Die vermeintlichen Buchstaben sind dabei vielmehr Symbole und können vielfältige Bedeutungen aufweisen. Dabei entscheiden manchmal Details oder die Kombination der Schriftzeichen über die jeweilige Interpretation der Motive und Tattoos. Interessanterweise ist es unerheblich, ob als Vorlagen chinesische Schriftzeichen oder japanische Schriftzeichen gesucht werden: Obwohl die Sprachen nichts miteinander zu tun haben und selbstverständlich einer Übersetzung bedürfen, gilt dies nicht für die Schriftzeichen selbst. Beide Sprachen greifen auf dieselben Zeichen zurück. Z.B. wird das Wort “Liebe” in beiden Sprachen mit demselben Symbol dargestellt, aber selbstverständlich völlig anders ausgesprochen.
Varianten von Tattoos: Beliebt sind einzelne Zeichen genauso wie ganze Romane, die sich mancher in die Haut stechen lässt. Gelesen wird dabei von oben nach unten und von rechts nach links. Was die Tattoos bedeuten, klärt eher eine professionelle Übersetzung als der Blick in Vorlagen, die oft Fehler enthalten. Tätowieren kann man einfarbig (meist in schwarz) oder zweifarbig, wobei Verläufe von schwarz und rot sehr beliebt sind. Wichtig ist, wie im Interview bereits erwähnt, auch die Schriftart. Sie entscheidet darüber, ob Proportionen wirklich stimmen – auch dies erkennt nur ein Schriftkundiger – und ob eine geometrisch, geradlinige Form oder geschwungene Formen entstehen.
Exkurs “chinesische Tattoos”: Ein chinesisches Tattoo ist noch einmal ganz etwas anderes und hat mit chinesischen Schriftzeichen nicht unbedingt zu tun. In China besonders beliebte Motive sind verschiedene Tiere, Drachen, Blumen und Pflanzen. Diese ornamentalen Motive sind wahre Exportschlager und mittlerweile außerhalb von China weltweit weit verbreitet.
Habt Ihr Fragen zur Tattooentfernung? Nehmt Kontakt zu uns auf – wir beraten Euch gern.